Dienst an den Armen – und den armen Reichen

Umfragen zeigen, dass weite Teile der Bevölkerung das diakonische Handeln der Kirchen wertschätzen: Kirche brauche es, weil sie sich um Arme, Schwache, Einsame, Vergessene kümmert. Diese Wertschätzung ist aber meist mit einer doppelten Distanzierung verbunden. Die befragten Personen delegieren einerseits die konkrete diakonische Tat an kirchliche Professionelle. Andererseits schätzen viele Menschen die kirchliche Hilfe für die anderen und sehen sich selber nicht als „Arme“.

Der Fokus von Diakonie auf die Armen erscheint mir durchaus biblisch. Gott wendet sich der bedürftigen, zerbrochenen Welt zu und will sein Reich der Gerechtigkeit und Liebe aufrichten. Jedermann ist unter Gottes Herrschaft eingeladen und willkommen, ganz besonders die Armen, denen das Wissen, die Möglichkeiten oder der Selbstwert zum Zugang fehlen. Der sozialdiakonische Dienst gehört darum zu den Hauptaufgaben der Kirche.

Diakonie wendet sich insbesondere denjenigen zu, die bisher übersehen wurden. In der soziologischen Fachsprache sind das die Marginalisierten. Aber ebenso wie beim Begriff „die Armen“ denken auch da viele Menschen an andere, nicht an sich selber. Zusätzlich wird das Blickfeld verengt, wenn man nur an materiell Arme denkt. Eine christliche Gemeinde sollte aber fragen: Wen haben wir in unserer Gemeindearbeit bisher übersehen? Wer wurde marginalisiert oder stand abseits?

Diakonie bezeugt das Evangelium mit der Tat. Materiell Arme brauchen vielleicht Geld, damit ein Kind Musikstunden besuchen oder an einem Ferienlager teilnehmen kann. Sozial Arme brauchen Gemeinschaft gegen Vereinsamung und Isolation. Wer arm ist an Lebenssinn, braucht Hoffnung, eine Lebensperspektive, Möglichkeiten zur Beteiligung an einer Aufgabe. Wer arm ist an Gottesnähe, bedarf der Versöhnung mit Gott.

Gott hat den Menschen geschaffen als „lebendige Seele“, wörtlich übersetzt als „lebendige Kehle“. Diese dürstet nach Wasser und nach Leben. Der Mensch ist und bleibt bedürftig, denn seine Kehle mit ihrem Durst wird nicht ein für allemal gestillt. Das gilt auch für die materiell Reichen und für die sozial Arrivierten. Auch für mich. Wir sind alle bedürftig und arm.

Diakonie überschreitet immer wieder eine Grenze: Heraus aus der Zone der Bequemlichkeit, hin zu denjenigen, die abseits stehen. Die christliche Gemeinde dient der Welt, indem sie ihr das Evangelium bezeugt.

Gott drängt uns nach aussen, über unsere Grenzen hinaus. Gott stellt uns in Dienst. Dienst an und mit Bedürftigen, seien sie materiell arm oder reich: In Jesu Namen Tränen abwischen, Schmerz lindern, stummes oder lautes Leid teilen, überwinden oder vorbeugend verhindern. So sind wir unterwegs mit Gott in seiner Mission, der einst alles neu schaffen wird.

Das vorliegende Bulletin geht Fragen nach dem Selbstverständnis der Diakonie nach und tippt einige Arbeitsfelder an. Eine erweiterte Fassung des Dossiers findet sich auf der LKF-Homepage.

An der Tagung vom 6. Mai in Aarau (Programm auf Seite 11) geht es um den inneren Zusammenhang von Diakonie und Gemeinde: Die Kirche entwickeln als Dienstgemeinschaft, die andern dient und dadurch als lebendige Gemeinschaft wächst. Denn der Herr der Kirche hat genug Lebenswasser für alle Bedürftigen. Sie sind herzlich eingeladen!

Pfr. Dr. theol. Paul Kleiner, Rektor des TDS Aarau, schrieb diesen Text als Editorial fürs LKF-Bulletin 1/2011.